
Im Garten der Orchideen
Das Thema Erstlingswerke ist immer schwierig, vor allem, wenn man es über mehrere Länder hinweg betrachtet. Wenn es um die Geschichte von Magazinen geht, wird es noch schwieriger, denn das Leben von Magazinen ist unbeständig und viele können in der Versenkung verschwinden, bevor sie von jemandem außerhalb einer kleinen Leserschaft wahrgenommen werden. Publikationen, die für den sofortigen Konsum bestimmt waren, wurden nicht immer archiviert.
Lange Zeit war Weird Tales (wahrscheinlich am bekanntesten für Kurzgeschichten von H.P. Lovecraft, Robert. E. Howard und später Ray Bradbury) galt als das erste fantastische Magazin, das Science Fiction, Weird Fiction und Horror veröffentlichte. Diese Geschichte wurde in den letzten Jahren revidiert. Der Orchideengarten war ein in München ansässiges Magazin, das erstmals 1919 erschien und dem bekannteren amerikanischen Magazin um einige Jahre voraus war. Es wird heute als das erste Fantasy-Magazin anerkannt (hier digital archiviert).
Der Orchideengarten erschien nur bis 1921 und steht ein wenig im Schatten seiner bekannteren und populäreren Münchner Zeitgenossen Jugend und Simplissicimus, doch die Bandbreite der Geschichten und die beunruhigende Kunst sind einen Blick wert.
Die veröffentlichte Belletristik war eine Mischung aus deutschen Originalgeschichten und Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen. In seinen einundfünfzig Ausgaben enthielt Der Orchideengarten Geschichten von so bekannten Namen wie H.G. Wells.
Der Zeichenstil unterscheidet sich Der Orchideengarten stark von dem seiner amerikanischen Verwandten. München war die Heimat des deutschen Expressionismus und dieser Einfluss kommt in den beunruhigenden Titelbildern sehr deutlich zum Ausdruck. Sie sind von Künstlern wie Paul Klee beeinflusst und mutieren zu seltsamen, beunruhigenden Erkundungen der natürlichen Welt, die als Illustration einer Jeff Vandermeer-Geschichte nicht fehl am Platze wären.




Weitere Cover-Beispiele: 1 & 2
Diese Verbindung zum Expressionismus wird im Inneren des Magazins noch deutlicher. Während die Herausgeber historische Bilder von Meistern wie Albrecht Dürer und Gustav Dore verwendeten, war einer der regelmäßigen Illustratoren der in München lebende Künstler Alfred Kubin. Kubins kratzige, jenseitige und geradezu verstörende Kunstwerke kommen in Der Orchideengarten voll zur Geltung. Dabei war er auch eines der Gründungsmitglieder der Münchner Künstlergruppe Der Blaue Reiter, die von Franz Marc, Marianne von Werefkin, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Gabriele Münter und einigen anderen gegründet wurde.
Auf den ersten Blick scheinen Kubins Werke, die Menschen darstellen, die in zwei Hälften geschnitten, durch die Erde geschleift oder von Dämonen heimgesucht werden, nicht unbedingt mit den vielfarbigen Gemälden von Marc und Kandinsky zusammenzupassen. Dennoch geht aus der damaligen Korrespondenz hervor, dass sie seine Werke unbedingt in die Ausstellungen des Blauen Reiter aufnehmen wollten. Ich denke, das liegt daran, dass Kubins Zeichnungen etwas mit den bekannteren Künstlern gemeinsam hatten: die Suche nach einem tieferen spirituellen Sinn hinter dem Realismus eines Großteils der deutschen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nur dass Kubins spiritueller Sinn dunkler und im Grotesken begründet war.
Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit vom Inhalt weg auf das Beiläufige lenken. Wie die meisten Zeitschriften war auch Der Orchideengarten zumindest für einen Teil seiner Einnahmen auf Werbung angewiesen. Der Orchideengarten zog aufgrund seiner Thematik eine andere Art von Anzeigenkunden an als der Simplissicimus. Zwischen den Einladungen zum Besuch des Hellebrun-Zoos oder zum Probieren der neuesten Zigarren finden sich Anzeigen, die uns einen Eindruck von den okkulten Interessen vermitteln, die damals in Deutschland aktiv waren.
Das erste Mal erscheint in Der Orchideengarten eine esoterische Anzeige für Das Reich, herausgegeben von Alexander von Bernus, einem Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, der auch an Rudolf Steiners Anthroposophischer Gesellschaft interessiert war.
In der fünften Ausgabe von Der Orchideengarten gibt es zwei sehr deutliche Anzeigen, die erste ein einfacher Text mit der Überschrift „Kostenfrei. Prospekte über – Seele Kultur/Psychische Forschung / Geheimwissenschaften /Mystik/Theosophie. Verlagsbuchhandlung Max Altmann Leipzig“ , die zweite mit einer fetten Überschrift in Frakturschrift, die erklärt, dass „Okkultismus“ „Aberglaube, Alchimie, Astrologie, Chiromatik, Somambulismus, Magie, Mystik, Spiritismus, Theosophie“ bietet. Bücher, besonders alte. Über diese Gebiete zu kaufen gesucht. Br. unter „Mystik“ an die Expedition ds. Bl.“
Dies sollte nicht überraschen, da der Dreiländerverlag, der Herausgeber von Der Orchideengarten, auch vor esoterischen Themen nicht zurückschreckte. Ab der achten Ausgabe von 1919 schalteten sie Anzeigen für ihr eigenes Buch Die Erde – nicht die Sonne Ein geozentrisches Weltbild.
Im Laufe des Jahres 1919 erscheinen weitere esoterische Anzeigen, die zu den bereits besprochenen hinzukommen, darunter „Aberglaube! alte Bücher über den Aberglauben aller Länder und Völker, über Hexenwesen und Femgerichte, Seeräuberchroniken und alte Kajütbücher, Okkultes und Galantes. Erbitte genaue Angebote u Preis unter „Aberglaube“ a. d. Exp. d.Orchideeng,“ , aber im Moment konzentrieren sie sich hauptsächlich auf Publikationen.
Zu Beginn des Jahres 1920 ändert sich das. Eine Anzeige für Reinhold Kohlhardt in Berlin bietet zum ersten Mal Dienstleistungen an, in diesem Fall Physiognomie und Graphologie, während wir in Ausgabe acht desselben Jahres eine Ankündigung für den Neuen Christus zu bekommen scheinen. Während des gesamten Jahres 1920 scheint das Esoterische in den Kleinanzeigen weitgehend abwesend zu sein, bis zur Ausgabe 11, in der wir „Wissenschaftliches INSTITUT und okkulte Heilweise Behandlung von Nervenleiden jeglicher Art, auch chron. Lähmungserscheinungen, Sprachfehler, wie Stottern, Gedächtnisschw., Fallsucht (Epilepsie), Neurasthenie, auch alle ander. Leiden behandelt mit bestem Erfolg. Durch meine Sehergabe, die ich schon fast von meiner Geburt an besitze, bin ich imstande, aus der Photographie eine haarscharfe Diagnose zu stellen. FRIEDRICH BLUM Psychometer und Magnetopath Biberach (Riß), Württemb. Prospekte gegen Einsendung von Mark 1.- in Marken.„, und eine Anzeige für das Astrologische Institut in Berlin Charlottenburg. In der 14. Ausgabe von 1920 gibt es vier Anzeigen, die sich speziell auf den Okkultismus beziehen, wobei der Trend eher zu Instituten als zu Verlagen geht, die esoterische Bücher anbieten.
In der letzten Ausgabe von 1920 ist ein deutlicher Anstieg der Anzeigen mit okkultem Bezug zu verzeichnen, ein Trend, der sich 1921 bis zum Ende der Zeitschrift fortsetzt. Dies fällt auch mit einer Zunahme der Seiten für Kleinanzeigen zusammen, was vielleicht die Notwendigkeit widerspiegelt, aufgrund des Rückgangs der Leserschaft mehr Einnahmen über Anzeigenkunden zu erzielen.
Diese Veränderung gibt uns einen besseren Einblick in die Art der esoterischen Interessen der damaligen Zeit. Zum Beispiel Hans Wolfs Grundlagen der Astrologie, „Das erste wissenschaftliche Werk auf diesem Gebiet“. Illustriert mit einem monochromen Pentagramm, oder Uranus-Bücher von Berufsschriftsteller A.M.Grimm, die 8 Mark kosten und „bedeutende Aufsätze über Astrologie, Esoterik, Magie, Okkultismus und Medien“ bringen.
Eine andere hat die sehr eindringliche Überschrift „Die Sterne lügen nicht!“, während eine noch kleinere Anzeige in der gleichen Ausgabe „Charakter/Schicksal/Zukunft. Belangen Sie sofort nähere Auskunft“
Neben der Astrologie wurden in München zu dieser Zeit auch andere Methoden der Wahrsagerei praktiziert. In der zweiten Ausgabe von 1921 heißt es in einer kleinen Textanzeige: „Antwort Aus die Rätsel des Daseins! Der Tarot. Methode der Zukunfts-erforschung als Schlüssel Okkultismus v. Daïtyanus. Gustav Meyrink schreibt ‚Ein sehr gewissenhaftes zusammgestelltes Werk, das Je- der Okkultist gelesen haben muss!‘„
Während ein anderes Werk Erkenntnisse für mehr als nur den Einzelnen bietet. „Deutschlands Zukunft im Lichte spiritistischer, astrologischer u. okkulter Weissagungen 1920 – 35„. Da diese Rubrik aus dem Jahr 1921 stammt, ist unklar, ob sie eine Erfolgsquote für die Vergangenheit oder die Anzahl der Prophezeiungen aus dem Vorjahr angibt.
Zum Zeitpunkt der vorletzten Ausgabe von Der Orchideengarten gibt es neun Anzeigen, die ausdrücklich für Esoterik und Okkultismus werben.
Wie bei jedem historischen Dokument gibt es eine Reihe von Filtern, die wir berücksichtigen müssen: diejenigen Unternehmen, die es sich leisten konnten, Anzeigen zu kaufen, diejenigen, die von der Zeitschrift ausgewählt wurden, und diejenigen, die glaubten, dass die Zeitschrift ihr Geschäft steigern würde. Aufgrund dieser Einschränkungen können wir nicht von absoluten Zahlen sprechen.
Was bei der Lektüre von Der Orchideengarten jedoch deutlich wird, ist, dass wir einen Blick auf die Sozialgeschichte der okkulten Praktiken im Deutschland der 1920er Jahre werfen können, wenn wir über den Inhalt der Zeitschrift hinausgehen. Das lenkt den Blick weg von den Hauptfiguren und -bewegungen der damaligen Zeit und wendet sich stattdessen den Dienstleistungen zu, die der breiten Bevölkerung angeboten wurden, die sich im Rahmen ihres täglichen Lebens mit okkulten Praktizierenden auseinandersetzte.